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Einleitung
Elastomere Dichtungsgummis, wie sie im Motorraum von Kraftfahrzeugen und in Luftfahrtanwendungen eingesetzt werden, sind dauerhaften thermomechanischen Belastungen ausgesetzt. Ihre Dichtwirkung – die Fähigkeit, das Eindringen und Entweichen von Flüssigkeiten und Gasen zu verhindern – ist ein zentraler Faktor für die Zuverlässigkeit und Langlebigkeit der Gesamtsysteme. Die wissenschaftlich fundierte Bewertung und Vorhersage des Langzeitverhaltens dieser kritischen Komponenten erfordert präzise Analysemethoden, die das komplexe Zusammenspiel von Temperatur, mechanischer Belastung und Zeit erfassen können.
Mechanismen des Dichtungsverlusts
Kurzfristige Effekte
Kurzfristig kann die Dichtwirkung durch thermische Ausdehnung und Kontraktion, Druckschwankungen oder Montagefehler beeinträchtigt sein. Bereits während der ersten Betriebsstunden zeigen sich charakteristische Effekte wie Kriechen, Setzverhalten und erste Relaxationserscheinungen – vor allem unter hohen Temperaturen. Diese initialen Veränderungen können bereits kritische Auswirkungen auf die Systemdichtheit haben.
Langfristige Alterungsmechanismen
Langfristig dominieren komplexe Alterungsmechanismen, die die fundamentalen Materialeigenschaften beeinträchtigen:
Oxidative Zersetzung: Sauerstoffbedingte chemische Reaktionen führen zur Kettenspaltung und Vernetzungsänderungen im Polymernetzwerk.
Weichmacherverlust: Migration und Verdampfung von Weichmachern reduziert die Flexibilität und erhöht die Steifigkeit des Materials.
Mechanische Risse: Zyklische Belastungen führen zur Rissinitiierung und -ausbreitung, was die strukturelle Integrität kompromittiert.
Irreversible Verformungen: Plastische Deformation und Druckverformungsrest reduzieren die Rückstellfähigkeit und damit die Dichtwirkung.
Studien zeigen, dass beispielweise EPDM-Gummis (EPDM: Ethylen-Propylen-Dien-Monomer) trotz hervorragender Anfangseigenschaften durch thermische und mechanische Alterung nach Jahren unter Praxisbedingungen spürbare Verluste in der Dichtfähigkeit aufweisen können
Thermomechanische Analyse als Schlüsseltechnologie
Grundprinzip der TMA
Die Thermomechanische Analyse (TMA) ist eine bewährte und wissenschaftlich fundierte Methode zur Untersuchung des zeit- und temperaturabhängigen Verhaltens von Dichtungsmaterialien. Bei der TMA wird eine Probe einem kontrolliert variierenden Temperaturprogramm und einer definierten Kraft ausgesetzt. Es wird die Längenänderung (Expansion oder Schrumpfung) des Materials in Abhängigkeit von Temperatur und Last gemessen. Damit lassen sich neben der thermischen Ausdehnung insbesondere auch das Kriech- und Relaxationsverhalten sowie Glasübergangstemperaturen und Phasenübergänge präzise bestimmen.
Einfluss der TMA auf die Dichtwirkungsbewertung
Die TMA ist zur Bewertung der Dichtwirkung im Motorraum maßgeblich, indem sie erlaubt, das temperatur- und lastabhängige Verformungsverhalten von Dichtungsgummi präzise zu vermessen und zu quantifizieren. Dies ist entscheidend, um vorherzusagen, wie gut eine Dichtung unter realen Betriebsbedingungen – wie hohen Temperaturen, wechselnden Lasten und langanhaltender Kompression – ihre Funktion langfristig erfüllt.
Forschungsergebnisse belegen, dass das Dichtverhalten von Profil- und Flachdichtungen im Motorraum nicht allein von ihrer Anfangsgeometrie und -elastizität abhängt, sondern maßgeblich vom Verformungsverhalten unter Temperatur, mechanischer Last und über die Zeit. Die TMA liefert hierzu die entscheidenden Materialkenndaten und erlaubt so eine wissenschaftlich fundierte Bewertung, wie sich die Dichtfunktion bei den typischen Beanspruchungen des Motorraums verändert oder verloren geht.
Charakteristische Messgrößen und deren Bedeutung
Mit der TMA lassen sich bei Gummidichtungen im Automotive-Bereich mehrere entscheidende Materialeigenschaften bestimmen, die für die Einsatzfähigkeit und Lebensdauer im Motorraum relevant sind:
Wärmeausdehnungskoeffizient (CTE)
Definition und Messung: Der CTE beschreibt die relative Längenänderung pro Temperatureinheit und ist eine wichtige Kenngröße zur Beurteilung, wie stark sich das Dichtgummi bei Temperaturschwankungen verändert.
Praktische Bedeutung: Die TMA-basierte Messung zeigt, wie stark sich das Dichtungsmaterial bei den typischen Temperaturschwankungen im Motorraum ausdehnt oder zusammenzieht. Dies ist wesentlich, um Spaltenbildung und damit Undichtigkeiten bei Temperaturzyklen zu vermeiden. Zu hohe Ausdehnung kann zu Undichtigkeit führen, während unzureichende Expansion zu Druckverlusten führen kann.
Bestimmung: Die TMA ermöglicht die präzise Bestimmung der Temperatur, bei der das Material von einem hart-spröden in einen gummi-elastischen Zustand übergeht.
Kritische Bedeutung: Tg gibt an, ab welcher Temperatur ein Material von fest-elastisch zu weich-elastisch übergeht – bedeutend für das Betriebsgrenzenmanagement. Wichtig, um zu wissen, ab wann die Dichtung unter Betriebsbedingungen versagen könnte.
Kriech- und Relaxationsverhalten
Charakterisierung: TMA-Messungen erfassen das zeitabhängige Nachgeben des Materials unter konstanter Last. Diese Analysen zeigen das zeitabhängige Nachgeben oder Setzen des Materials unter konstanter Last und Temperatur.
Langzeitrelevanz: Kritisch für die Langzeitdichtheit, da gerade im Motorraum über längere Zeit Belastungen wirken, die das Dichtmaterial langsam verformen können, was die Dichtwirkung langfristig reduziert. Relaxations- und Kriechmechanismen können die Struktur über Jahre verändern.

Strukturveränderungen und Langzeitdegradation
Erfassung: Langzeit-TMA-Prüfungen machen irreversible Materialverluste wie Setzung sichtbar, die besonders unter zyklischer Belastung auftreten können.
Praxisrelevanz: Diese Kennwerte sind bedeutend für die Prognose der Lebensdauer und Wartungsintervalle und besonders relevant für Motorraumdichtungen, die temperatursensitiv sind.
Phasenübergänge und Dämpfungsverhalten
Detektion: Neben dem Glasübergang macht die TMA auch andere Strukturänderungen (z.B. Erweichung, Schmelzen von Phasen) sichtbar, die das Material schlagartig in seinen Eigenschaften verändern können.
Systemische Bedeutung: Diese Übergänge sind kritisch für das Verständnis des Materialverhaltens unter extremen Betriebsbedingungen.
Einfluss der thermischen Expansion auf die Langzeitdichtheit
Die thermische Expansion von Dichtungen ist ein maßgeblicher Faktor, der die langfristige Dichtwirkung und Zuverlässigkeit von Dichtungen im Motorraum beeinflusst. Mittels TMA lässt sich das Ausdehnungsverhalten von Gummimaterialien exakt quantifizieren.
Kritische Auswirkungen auf die Dichtfunktion
Maßänderungen bei Temperaturzyklen: Elastomere Dichtungen dehnen sich bei Erwärmung aus und ziehen sich bei Abkühlung zusammen. Diese zyklischen Bewegungen führen gerade im Langzeiteinsatz zu Materialermüdung, Rissen oder Abrieb. Wenn die thermische Ausdehnung zu groß ist, kann dies zu Spaltenbildung oder zu übermäßiger Pressung führen – beides begünstigt Undichtigkeiten.
Einfluss auf die Kompression: Durch dauerhafte thermische Belastungen wird der Dichtwerkstoff weicher, der sogenannte “ Druckverformungsrest“ –(engl.: Compression Set) nimmt zu. Dies bedeutet, dass die Dichtung nicht mehr vollständig in ihre Ursprungsform zurückkehrt, was zu einem dauerhaften Spalt und Leistungsverlust führt.
Beschleunigung von Alterungsprozessen: Wiederholte thermische Beanspruchung fördert das Kriech- und Relaxationsverhalten des Materials, was sich direkt negativ auf die Dichtwirkung auswirkt.
Unterschiedliche Wärmeausdehnung zu Nachbarbauteilen: Stimmen die CTEs von Dichtung und Flansch nicht überein, entstehen ungleichmäßige Spannungen, die das Versagen der Abdichtung beschleunigen können.
Praktische Anwendung und Laborimplementierung
TMA-Systeme für Automotive-Anwendungen
TMA-Geräte unterstützen hochpräzise, normgerechte Analysen (DIN, ASTM, ISO) der Dichtgummimaterialien unter verschiedenen Atmosphären und Temperaturprogrammen – wie sie im Automotive- und Aerospace-Labor unumgänglich sind. Spezielle Protokolle für Elastomere ermöglichen „realistische“ Prüfbedingungen, wie sie für den Praxiseinsatz im Motorraum typisch sind.
Entscheidungsgrundlagen für die Praxis
Die TMA liefert objektive, quantitativ belastbare Daten, mit denen Entwicklungsingenieure und Labormitarbeiter folgende kritische Fragen beantworten können:
- Wie groß ist die maximale Ausdehnung der Dichtung im relevanten Temperaturbereich?
- Wie stark sind einzelne Materialien (z.B. EPDM vs. FKM vs. Silikon) von Druckverformungsrest (engl.: Compression Set) und Kriechen betroffen?
Aktuelle Forschungsentwicklungen
Materialinnovationen
Eine aktuelle Studie zeigt, dass neuartige Werkstoffe wie thermoplastische Vulkanisate (TPV) oft stabilere mechanische Eigenschaften und eine vergleichbare Dichtwirkung wie klassisches EPDM bieten – wobei ihr langzeitliches Relaxations- und Setzverhalten ebenfalls durch TMA charakterisiert wurde (PMC Paper, 2023).
Wissenschaftliche Validierung
Eine detaillierte Dissertation untersuchte das Verhalten von EPDM-Dichtungen im Kontext von Automobildichtungen sowohl kurz- als auch langfristig. Sie beschreibt, wie Relaxations- und Kriechmechanismen die Struktur über Jahre verändern können und weist auf die Bedeutung von TMA für die Identifikation solcher Degradationsphänomene hin.
Anwendungsbereiche und industrielle Relevanz
Die TMA kommt sowohl bei Werkstoffauswahl und -entwicklung als auch bei der Qualitätskontrolle eingesetzter Dichtungsgummis zum Einsatz und formt so die Basis für eine belastbare Lebensdauerprognose im Automobilbereich. Critical Points können frühzeitiger erkannt und Materialien gezielt weiterentwickelt werden.
Diese Informationen sind essenziell für:
- Materialauswahl: Objektive Bewertung verschiedener Elastomere
- Qualitätskontrolle: Überwachung der Materialcharakteristika in der Produktion
Fazit
Die TMA-basierte Messung der thermischen Expansion und des mechanischen Verhaltens ist unerlässlich, um Dichtungswerkstoffe so auszuwählen und auszulegen, dass sie den realen thermischen Anforderungen das ganze Fahrzeugleben über standhalten.
Nur durch präzise TMA-Charakterisierung lassen sich Dichtsysteme entwickeln, die auch nach Jahren im Motorraum zuverlässig funktionieren und Leckagen langfristig zuverlässig verhindern. Werkstoffauswahl und optimiertes Dichtungsdesign auf Basis von TMA-Ergebnissen reduzieren die Risiken von Versagen durch thermische Expansion signifikant.
Laborergebnisse aus der TMA sind die wissenschaftliche Grundlage, um Langzeitdichtheit fundiert beurteilen und spezifizieren zu können. Die Methode ist unverzichtbar für die moderne Entwicklung und Qualitätssicherung elastomerer Dichtungssysteme in der Automobil- und Luftfahrtindustrie.
Literaturverzeichnis
Nayak, J., Katheria, A., & Das, N.C. (2022). Research on the Material Compatibility of Elastomer Sealing O-Rings. Polymers, 14(16), 3323. https://www.mdpi.com/2073-4360/14/16/3323
Drobny, J.G. (2021). Investigation into Thermomechanical Response of Polymer Composite Materials Produced through Additive Manufacturing Technologies. Materials, 15(14), 5069. https://www.mdpi.com/1996-1944/15/14/5069
Technische Standards:
- ASTM E831 („Standard Test Method for Linear Thermal Expansion of Solid Materials by Thermomechanical Analysis“) für thermomechanische Prüfungen
- ISO Standards: ISO 23529 für Dichtungsmaterialien