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Einleitung
In der präklinischen Wirkstoffentwicklung dreht sich alles um das Verständnis molekularer Interaktionen. Ob Protein-Ligand-Komplexe, Antikörper-Antigen-Bindungen oder Enzym-Inhibitor-Wechselwirkungen – für die Auswahl und Optimierung biopharmazeutischer Wirkstoffe zählt nicht nur ob ein Molekül bindet, sondern wie gut, wie stark und warum es bindet.
Genau hier kommt die isotherme Titrationskalorimetrie (ITC) ins Spiel: eine label-freie, in Lösung arbeitende Methode, mit der sich Bindungsaffinität, Enthalpie (ΔH), Entropie (ΔS), freie Energie (ΔG) und Stöchiometrie in einem einzigen Experiment bestimmen lassen. Sie ermöglicht es, Wechselwirkungen nicht nur qualitativ, sondern vollständig thermodynamisch zu charakterisieren – und das unter nahezu physiologischen Bedingungen.
Für Labormitarbeiter, die mit der Charakterisierung von Biologika, Peptidtherapeutika oder rekombinanten Proteinen befasst sind, ist die ITC ein mächtiges Werkzeug. In frühen Screening-Phasen erlaubt sie, bindungsaktive Moleküle schnell zu identifizieren. Später hilft sie, Formulierungen zu optimieren, Puffersysteme zu validieren oder kritische Stabilitätsparameter zu bewerten.
Dieser Beitrag richtet sich an alle, die im Labor an biopharmazeutischen Wirkstoffen arbeiten – sei es in Universitäten, Start-ups oder etablierten Pharmaunternehmen. Wir zeigen, wie ITC funktioniert, wann sie anderen Methoden überlegen ist und worauf man achten muss, um das Beste aus jedem Experiment herauszuholen.
Wie ITC funktioniert – und warum das entscheidend ist
Die isotherme Titrationskalorimetrie (ITC) ist eines der wenigen biophysikalischen Verfahren, das direkt die Wärme misst, die bei der Bindung zweier Moleküle freigesetzt oder aufgenommen wird. Im Gegensatz zu spektroskopischen oder markierungsbasierten Methoden wie SPR (Oberflächenplasmonenresonanzspektroskopie) oder MST (Microscale Thermophorese) arbeitet die ITC vollkommen label-frei und in Lösung, was sie besonders attraktiv für empfindliche oder native Proben macht.
Was passiert im Messzylinder?
Das Prinzip ist einfach, aber leistungsstark: In einer hochsensiblen Kalorimeterzelle wird das Analytenmolekül (z. B. ein Protein) gelöst. Über eine feine Spritze wird das Ligandenmolekül (z. B. ein Inhibitor oder Antigen) titriert – üblicherweise in 10–20 kleinen Injektionen. Jedes Mal, wenn Moleküle binden, wird Wärme freigesetzt oder absorbiert. Diese Wärme wird vom Gerät als thermischer Puls gemessen.
Was liefert die ITC konkret?
Aus den Wärmeflüssen bei jeder Injektion wird eine Bindungskurve berechnet. Daraus ergeben sich:
- Bindungskonstante (K): Gibt an, wie stark die Bindung ist.
- Enthalpieänderung (ΔH): Zeigt, ob die Bindung exotherm oder endotherm ist.
- Entropieänderung (ΔS): Gibt Aufschluss über Ordnungsänderungen im System.
- Freie Energie (ΔG): Der kombinierte thermodynamische Ausdruck der Bindung.
- Stöchiometrieparameter (n): Wie viele Liganden binden pro Target-Molekül?
Diese Parameter helfen nicht nur bei der Identifikation von Hit- oder Lead-Molekülen, sondern liefern auch Informationen darüber, ob die Bindung entropie- oder enthalpiegetrieben ist, was entscheidend für die spätere Optimierung ist. In der Kombination von Aussagekraft, Einfachheit und physikalischer Direktheit ist die ITC eine der robustesten Methoden zur Charakterisierung molekularer Bindung – besonders dort, wo das Verständnis der energetischen Grundlagen zählt.
ITC im Einsatz: Typische Anwendungen in der Biopharmazeutik
Für viele im Laboralltag stellt sich die Frage: Wann lohnt sich der Einsatz von ITC wirklich?
Die Antwort: Immer dann, wenn es darum geht, Bindungen nicht nur nachzuweisen, sondern im Detail zu verstehen. Die isotherme Titrationskalorimetrie liefert für biopharmazeutische Fragestellungen nicht nur Werte für die Bindungskonstanten, sondern bietet tiefe thermodynamische Einblicke, die für die Wirkstoffcharakterisierung und -optimierung entscheidend sind.
Protein-Ligand-Wechselwirkungen: Der Klassiker
Gerade in der frühen Wirkstoffforschung geht es darum, Bindungspartner zu identifizieren, deren Affinität zu quantifizieren und zu entscheiden, ob eine Leitstruktur Potenzial hat. Mit der ITC lassen sich:
- kleine Moleküle (z. B. Inhibitoren) gegen Enzyme oder Transportproteine prüfen
- Peptid-Wirkstoffe und ihre Target-Bindung untersuchen
- Konformationsänderungen beim Binden energetisch erfassen
Antikörper-Antigen-Interaktionen: Affinität verstehen, nicht nur messen
Die Methode liefert Ergebnisse für Feststoffe und Flüssigkeiten sowie Pulver und Pasten mit hoher Messgenauigkeit, was sie besonders wertvoll für die Entwicklung innovativer Elektrodenmaterialien macht.
Materialspezifische Betrachtungen und Alterungseffekte
Für die Entwicklung von Therapeutika auf Antikörperbasis ist die ITC eine wertvolle Ergänzung:
- präzise Messung der Bindungsenthalpie und -entropie (→ thermodynamische Fingerabdrücke)
- Beurteilung der Stöchiometrie (z. B. monovalente vs. bivalente Bindung)
- Vergleich nativer und modifizierter Antikörpervarianten in Puffer oder Serum
Dies ermöglicht nicht nur die Auswahl der besten Bindungskandidaten, sondern auch Rückschlüsse auf Epitope und Bindungsmechanismen.
Formulierungsentwicklung: Bufferscreening und Stabilitätsanalysen
Die ITC kann auch ohne Ligandenbindung aufschlussreich sein – etwa zur Analyse:
- von Pufferauswahl (z. B. ob ein Puffer selbst mit dem Protein interagiert)
- von thermischer Stabilität über sogenannte „heat of dilution“-Experimente
- von selbstassoziierenden Systemen (z. B. Aggregation, Dimerisierung).
Ein Beispiel aus der Praxis: In einer Studie wurde die ITC genutzt, um rekombinante Proteine in verschiedenen Formulierungen zu testen. Dabei zeigten sich nicht nur Unterschiede in der Bindungsaffinität, sondern auch Hinweise auf strukturelle Instabilitäten – lange bevor sichtbare Aggregationen auftraten.
Fazit
Die ITC liefert präzise, robuste und tiefgreifende Daten, die klassische Methoden oft nicht oder nur indirekt bieten. Für Laboranwender bedeutet das: ein Werkzeug, das Zeit spart, Experimente absichert und fundierte Entscheidungen ermöglicht.
Literaturverzeichnis
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[2] H. Su, Y. Xu, Application of ITC-Based Characterization of Thermodynamic and Kinetic Association of Ligands With Proteins in Drug Design, Frontiers in Pharmacology 9, 1133, 2018
[3] L. Baranauskiene, T.-C. Kuo, W.-Y. Chen, D. Matulis, Isothermal titration calorimetry for characterization of recombinant proteins, Current Opinion in Biotechnology 55, 9-15, 2019
[4] N. L. Traulsen, Thermodynamische Analyse von Supramolekülen durch isothermale Titrationskalorimetrie, Dissertation, 2015, Freie Universität Berlin